Kennen Sie das? Dem Veränderungsprojekt, an dem Sie in den letzten 1 bis 2 Jahren intensiv gearbeitet haben, fehlt einfach der Schwung. Es läuft nicht rund.
Sie haben Führungskräfte-Workshops durchgeführt, Projektpläne entworfen, Mitarbeitende beteiligt, Unternehmenswerte entwickelt, interne Kommunikationsprozesse verbessert, Ablaufprozesse analysiert und optimiert. Sie hatten gedacht, jetzt läuft alles in guten Routinen, die Unternehmenskultur habe sich ein großes Stück weiterentwickelt. Doch dann stockt der Veränderungsprozess, es zeigen sich wieder alte Verhaltensmuster, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschweren sich über mangelhafte Kommunikation, alte Prozessfehler tauchen wieder auf, Meetings werden abgesagt, Fluktuation und Krankenstand steigen wieder. Was ist los?
Klassischerweise – so kennen wir es aus unseren Beratungsprojekten – setzt sich dann die Steuerungsgruppe oder das Management zusammen und analysiert, was zu tun ist. Manchmal werden noch ein paar Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter befragt oder ein nächster Workshop durchgeführt. Doch meist ist das der falsche Weg. Vielmehr ist es in so einer Situation klüger, Vermeidungs-, Verniedlichungs- und Rechtfertigungsmuster zu durchbrechen.
Hier setzt das Tool „Retro-Delphi“ an. Und das geht so:
Erster Schritt: Bewertung durch das Change-Team oder durch die Steuerungsgruppe
Bewerten Sie in der Change-Gruppe die aktuelle Situation, dabei können folgende Fragen helfen:
- Was haben wir im Veränderungsvorhaben bereits erreicht?
- Welchen Nutzen hat die Veränderung gebracht?
- Welche neuen Abläufe und Verhaltensweisen sind bereits selbstverständlich geworden?
- Welche Chancen und Risiken (oder welche Hoffnungen) waren mit der Veränderung verbunden und welche davon sind bereits in welcher Form eingetroffen?
- Was ist nicht eingetroffen, welche Probleme haben sich ergeben, welche Rückschritte haben wir zu verzeichnen?
Besonders gut funktioniert diese Methode, wenn Sie die Dinge zuspitzen, durchaus vielleicht auch übertreiben. Schreiben Sie Ihre Antworten auf.
Zweiter Schritt: Feedback durch eine repräsentative Gruppe
Üblicherweise werden solche Analysen anderen Personen vorgestellt und miteinander diskutiert. Das Risiko ist dabei, dass gruppendynamische Prozesse (Anpassungsdruck, Widerstandsphänomene, Opportunismus, Schönfärberei usw.) die Diskussionsergebnisse verzerren und man damit zu falschen Schlüssen kommt. Bei Retro-Delphi ist es wichtig, dass nun kein direkter Austausch mit der ersten Gruppe stattfindet. Stattdessen werden die Ergebnisse von der Feedbackgruppe entgegengenommen und bewertet.
Dazu können folgende Fragen eingesetzt werden:
- Welche der von der Change-Gruppe beschriebenen veränderten Abläufe und Verhaltensweisen werden aus Ihrer Sicht wie stark umgesetzt?
- Stimmen Sie der Nutzenbeschreibung zu, wie würden Sie die Situation bewerten?
- Stimmen Sie der Problembeschreibung zu, sehen Sie andere Probleme?
- Was ist aus Ihrer Sicht übertrieben dargestellt, was eher untertrieben?
Diese Antworten und Kommentare zu der Sicht der ersten Gruppe werden ebenfalls notiert und nun zurückgespielt zu Gruppe 1, also z.B. zu der Change-Gruppe
Dritter Schritt: Interpretation und Maßnahmen durch die Change-Gruppe
Nun ist wieder Gruppe 1 dran. Sie liest die Kommentare der Feedback-Gruppe durch, kommentiert diese und entwickelt Vorschläge und Maßnahmen zur Verbesserung der Situation.
- Was können Gründe dafür sein, dass unsere Einschätzung von der Sichtweise der repräsentativen Gruppe abweicht?
- Welche Maßnahmen strategischer, struktureller oder kultureller Art sind geeignet, um die Differenzen zwischen unserer Bewertung und der Bewertung der repräsentativen Gruppe zu schließen?
- Wie können wir dem Veränderungsprozess neuen Schwung geben?
Jetzt denken Sie vielleicht, na dann los. Umsetzen. Doch Stopp. Erst ist wiederum ein Feedback erforderlich. Es sollen ja Maßnahmen sein, die wirklich helfen, akzeptiert werden und wirkungsvoll sind. Das ist dann der Fall, wenn die Analyse tief genug war und die Maßnahmen treffsicher sind. Darum darf jetzt eine dritte Gruppe ran.
Vierter Schritt: Feedback durch eine weitere repräsentative Gruppe
Nun lassen Sie das Ergebnis der Change-Gruppe durch eine weitere Gruppe aus Ihrer Organisation bewerten. Die Gruppe sollte möglichst heterogen zusammengesetzt sein und es sollten Personen dabei sein, die die Vorgänge im Rahmen des Veränderungsvorhabens selbst beobachtet haben und betroffen waren. Die Fragen für diese Gruppe lauten:
- Sind diese oder ähnliche Maßnahmen bisher schon ausprobiert worden?
- Wie wirksam waren diese Maßnahmen?
- Welche Chancen und Risiken ergeben sich aus der Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen?
- Oder einfach: Was halten Sie von diesen Vorschlägen der Change-Gruppe?
Fünfter Schritt: Reflexion durch die Change-Gruppe
Erst jetzt kommen wir zum Finale von „Retro-Delphi“, ein mehrfaches fortschreitendes Feedback in mehreren Schleifen. Die Change-Gruppe liest das Ergebnis von Runde 4 und arbeitet mit diesen Fragen weiter:
- Was bedeutet das Feedback für die Fortsetzung unseres Veränderungsprojekts?
- Welche Routinen funktionieren schon gut?
- Welche Routinen, Abläufe und Prozesse sollten wir justieren?
- Welche Maßnahmen sind aus unser Sicht unter Einbezug der Rückmeldungen der zwei repräsentativen Gruppen hilfreich?
Und nun werden weitere Schritte zur Weiterentwicklung des Veränderungsvorhabens geplant und umgesetzt.

Grafik: flow consulting
Retro-Delphi im Überblick
Fünf Tipps, die Sie bei der Anwendung von Retro-Delphi beachten sollten
- Verteidigen Sie nicht Ihre eigene Meinung. Es geht nicht ums „Recht haben“, sondern darum, möglichst viele Perspektiven einzubeziehen.
- Lassen Sie die Gruppen unbeeinflusst arbeiten, „flüstern“ sie ihnen also nicht vorab Ihre Meinung ein – Sie brauchen unvoreingenommenes Feedback.
- Lassen Sie zwischen den fünf Schritten keine unnötige Zeit verstreichen. Gut wäre es, wenn alle 5 Schritte zügig innerhalb von ein bis zwei Wochen erledigt sind.
- Wählen Sie die Feedback-Gruppen sorgfältig aus: Auf der einen Seite brauchen Sie eine möglichst breite repräsentative Verteilung, auf der anderen Seite Personen, die den Veränderungsprozess selbst miterlebt haben.
- Trennen Sie bei der Beantwortung der Fragen die Analyse (Was ist gut, was ist schlecht gelaufen?) von den Vorschlägen (Was sollten wir jetzt tun?). Das wird häufig miteinander vermischt.
Probieren Sie es mal aus. Vielleicht bei einem Veränderungsprojekt, welches schon weit fortgeschritten ist, bei dem Sie aber nicht zu 100% zufrieden mit der Umsetzung sind.
Viel Spaß und Erfolg bei dem Einsatz dieser vielleicht ungewöhnlichen Methode wünscht Ihnen
P.S. Online-Tools zur Analyse von Veränderungsprojekten finden Sie hier auf unserer Webseite und 36 weitere Tools in unserem neuen Buch „Toolbox Leading Change“ im Schäffer Poeschel Verlag
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