Ich bin zurück von einem zweitägigen Besuch der documenta in Kassel, die auch mit ihrer 14. Auflage immer noch die Ausstellung schlechthin zu zeitgenössischer Kunst ist. Das größte Kunstwerk ist in diesem Jahr der “Parthenon der Bücher”. Mit diesem Kunstwerk lassen sich Assoziationen für gutes Handeln im Management  ableiten.

Der Parthenon der verbotenen Bücher

Den “Parthenon der Bücher” hat die Argentinierin Marta Minujíns erschaffen.

Für viele ist es das beste Kunstwerk, der Inbegriff der diesjährigen documenta Ausstellung in Kassel. Der Parthenon hat dieselben Maße wie sein Vorbild auf der Athener Akropolis, nur bestehen die Säulen und die Friese nicht aus Stein, sondern aus Stahlträgern, an denen in Folie eingeschweißte Bücher hängen. Und es sind nicht irgendwelche Bücher, die da hängen, sondern solche Titel, die in irgendeinem Land der Welt einmal verboten waren oder noch sind. Soweit das Konzept – meine beiden Kinder sind angetan, machen sich auf die Suche nach bekannten Titeln … und sind erstaunt:

Wieso Karl May denn verboten sei, fragt mein Sohn – und was denn an “Der kleine Prinz” schlimm sein könne, meine Tochter. Das Konzept der Künstlerin scheint also sehr schnell aufzugehen, die Auseinandersetzung mit einzelnen „Bauteilen“ des Parthenon beginnt sofort und mit einem Bezug zur eigenen Person und Leseerfahrung. Mit der Verwunderung über Harry Potter oder Mickey Mouse als verbotene Bücher geht es weiter, die Eltern wundern sich dagegen nicht über viele Werke von Bertolt Brecht oder über “Die satanischen Verse”. In welchem Land jedoch “Ulysses“ oder “Alice im Wunderland“ verboten (gewesen) sind – das zu recherchieren nehmen sie sich vor. Auch hier also die Reflektion eigener Leseerfahrung und Bewertungsmaßstäbe – das Konzept funktioniert, es ist sofort nachvollziehbar und führt zu unmittelbarer Neugier und Reflexion.

Neugier, Reflektion und Attraktivität: Das gilt auch für Management-Konzepte

Dieses Kunstwerk erfüllt Bedingungen, die auch an von Führungskräften präsentierte Konzepte gestellt werden – auch diese sollen ja durch andere (Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten) nachvollziehbar sein und zu unmittelbarer Neugier und Reflektion führen. Konkrete Anknüpfungspunkte an die Erfahrungswelt der „Benutzer“ sind einer der Erfolgshebel (bekannte Bücher), der andere ein imposant-attraktives Ganzes (das Gerüst) mit Bezug zu Bekanntem (die Akropolis).

Alle schauen sich die Bücher an, kommen mit anderen Besuchern ins Gespräch, man mutmaßt (oder weiß), in welchem Land wann und warum gerade dieses Buch auf dem Index stand oder steht. Bis jemand bemerkt, dass einige wenige Säulen noch leer sind, das Kunstwerk also noch gar nicht fertig sei. Das stimmt, schließlich stand zu Beginn der Ausstellung Mitte Juni lediglich der Stahlgerüst-Parthenon, dann wurde mit dem Bestücken begonnen, mit Büchern, die von Privatleuten oder Institutionen gespendet werden. Nach den 100 Tagen documenta 14 sollen dort 50.000 Bücher hängen, die Säulen komplett bedeckt sein. Und der „Parthenon der Bücher“ funktioniert trotzdem schon…

Das Mitdenken im Unfertigen anregen

Nun, die Strategie, das Verkaufskonzept oder andere Entwürfe müssen nicht komplett oder perfekt sein, damit sie überzeugend erstveröffentlicht werden können. Hauptsache, das Entwerfen eines eigenen Bildes und möglicher konkreter Handlungsspielräume ist dem Empfänger des Konzepts in solchen Situationen des Unfertigen möglich. Der von mir hochgeschätzte Organisationssoziologe Karl E. Weick beschreibt das als das Herstellen einer „workable certainty“. Es appelliert an die Eigeninitiative des Adressaten, sich selbst Gedanken über die Lückenschlüsse zu machen (welche Bücher wohl dorthin kommen), andererseits fördert es die Initiative, mitzumachen (selbst Bücher zu spenden).


Noch ein Mal nach Kassel:

Das Parthenon auf der documenta in Kassel 2017Am folgenden Nachmittag gehen wir erneut am Parthenon vorbei – genau in dem Moment als Bücher an einer der noch freien Säulen fixiert werden. Es entwickelt sich ein Gedankenaustausch darüber, wer denn alles an diesem Kunstwerk beteiligt sei: Die Künstlerin als Ideengeberin, das Gerüstunternehmen als „Infrastrukturbereitsteller“, die Buchspender als Lieferanten von Einzelteilen, die beiden Mitarbeiter, die wir bei der Arbeit sehen, als „Anbringer“. Sind es Letztere, die das Werk vollenden? Auf den ersten Blick sicherlich – doch diesen „Parthenon der Bücher“ vollendet jeder einzelne Betrachter für sich selbst, auf seine Art und Weise und mit einer sehr individuellen Wirkung.

Erst durch die Anwender wird eine Strategie wirksam

Auch Strategie, Veränderungsvorhaben oder Innovationen werden erst durch das „Verarbeiten“ der Anwender vollendet und entfalten erst dadurch ihre Wirkung. Das Verfertigen von Programmen und Konzepten durch das Management ist dabei nur eine Idee, nicht einmal ein Gerüst, geschweige denn ein Einzelteil oder ein Anbringen…

Weitere Assoziationen dürfen nun Sie vollenden 😉

Frank Wippermann im August 2017.

Fotos: privat