Lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Organisationsentwicklung ZOE, wie sich Frank Wippermann dem afrikanischen ‚Ubuntu‘-Verständnis näherte und was es mit ‚Ubuntu‘ überhaupt auf sich hat.
‚Afrika‘ … nicht wenige haben exotisierende Bilder im Kopf: Savanne mit Tierwelt, Trommeln mit Tanz. Afrika gilt auch als Sehnsuchtsort: im Einklang mit sich und der Umgebung, zufrieden, fröhlich. Das funktioniert, solange man die vielen Probleme auf dem Kontinent ausblendet. Unter der Oberfläche geht es differenzierter zu, auch für Management und Führung.
Erste Gehversuche in Afrika
Vor über 10 Jahren hatte ich meinen ersten beruflichen Einsatz im südlichen Afrika – ein Management-Workshop zur Strategieentwicklung stand auf dem Programm. Dass es anders werden würde als in Europa, dass war mir vorher klar. Und ich hatte mich, wie so oft, durch das Lesen von Märchen auf eine neue Welt vorbereitet. ‚Kholomodumo‘ ist mir noch in Erinnerung. Ein gleichnamiges Ungeheuer bedroht ein Dorf und wird überlistet, indem alle Nahrung zusammentragen, die das Ungeheuer frisst, bis es platzt. Den in diesem Märchen beschriebenen Zusammenhalt erfuhr ich auch bei meinen Workshops … doch da blieb noch einiges, das zwar greifbar, aber nicht begreifbar war. Vor den nächsten Subsahara-Einsätze grub ich etwas tiefer. Ich stieß auf Lovemore Mbigi, der ‚Ubuntu‘ managementtauglich gemacht hatte.
Ubuntu als gemeinsames Grundverständnis
‚Ubuntu‘ ist das für das Afrika der Subsahara typische Verständnis von gegenseitiger Verantwortung. „Ich bin, weil wir sind“ – so lautet eine erste Annäherung an eine Übersetzung. Nun also Lovemore Mbigi, Professor aus Simbabwe, der nicht nur beschrieb, was ‚Ubuntu‘ für Management und Führung bedeutet – als Berater wendete er es auch selbst an. ‚Ubuntu‘ bedeutet in aller Kürze: Die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen, die Solidarität und die Fürsorge sind keine ethisch begründeten Ableitungen aus einem individualistischen Menschen- und Gemeinschaftsbild heraus, sondern Grundannahme und Voraussetzung jeden Handelns. Tanzen, Singen und Klatschen drücken folglich nicht eine ‚african happiness‘ aus, sondern dienen dem Erleben und Vergewissern von Gemeinschaft: „Einander wechselseitig zum Menschen machen“ (eine andere Übersetzung von ‚Ubuntu‘) ist Voraussetzung und Folge solchen Tuns. Organisation, Strategie, Struktur, Kultur, Führung, Entscheidungen – diese und andere ‚Dinge‘ entstehen durch das Angleichen aller Aktivitäten: beim Tanzen, Verhandeln, Singen, Diskutieren … in einem sich ergebenden Mix.
Ubuntu in der Anwendung
Ein Beispiel gefällig? Lovemore Mbigi berichtet von einem Management-Meeting: „Der Geschäftsführer und ich besprachen die strategischen Ziele des Unternehmens, und jede Pause wurde von Liedern und Slogans unterbrochen, die die Vision des Unternehmens vermitteln und festhalten sollten. Rinder wurden geschlachtet. Es wurde viel gesungen, Stammestänze getanzt, getrunken und gegessen. Die Zeremonie stellte eine Synthese aus westlichen Werten des Unternehmertums und dem visionären Geist des südlichen Afrikas dar.“ (1994: The Spirit of African Management. In: Christie, P., Lessem, R. & Mbigi, L. (Hrsg.): African Management. Philosophies, Concepts and Applications. Knowledge Resources, S. 77-91, S. 86).
Verbundenheit vorausgesetzt
Was aus westlicher Perspektive als Unterbrechung, Folklore oder Entspannungsübung erscheint, das ist für ‚Ubuntu‘ ein selbstverständliches und unverzichtbares gemeinsames Erleben: gemeinsame Ziele + gemeinsame Lieder + gemeinsames Essen + gemeinsame Vision. Die Summe ergibt sich erst durch das Miteinander allen Tuns – und das Ubuntu-Verständnis erst ermöglicht dieses Erleben. Diese vorausgesetzte Verbundenheit macht eine Formalisierung von ‚Organisation‘ mit all ihren Planungs- und Management-Facetten, wie wir sie nicht nur aus Europa, sondern auch aus anderen Kontinenten kennen, bestenfalls überflüssig. Eine verlangte Formalisierung dagegen macht ‚Ubuntu‘ schlimmstenfalls unmöglich – und damit in der Subsahara in der Regel nicht annehmbar.
Erweiterter Horizont
Mit Hilfe der Ausführungen von Lovemore Mbigi, der 2023 im Alter von 68 Jahren in Harare starb, erschloss sich mir die Subsahara-Welt besser. Das Neue und Andere wird mir seitdem nicht nur immer weniger fremd, die Bedeutung und der Wert dieses Anderen kann ich nach und nach schätzen. Und so war es mir eine große Freude, als ich im Sommer 2024 von der Redaktion der Zeitschrift für Organisationsentwicklung (ZOE) die Möglichkeit bekam, einen Beitrag zu Lovemore Mbigi zu veröffentlichen. Meine Aufenthalte im südlichen Afrika habe ich seitdem genutzt, um vor Ort mit den Leuten über ‚Ubuntu‘ zu reden. Diese Austausche waren ein gelebtes ‚Ich bin, weil wir sind‘.
Mein Beitrag erscheint in der OrganisationsEntwicklung 3/2025 (www.zoe-online.org). Lassen Sie sich auf einen anderen Blick auf Management, Führung und Organisation ein.
In diesem Sinne: „Pakushanda pamwe chete“*
*Shona – deutsch: auf ein gemeinsames Tun [wörtlich: bei der Arbeit nur alle zusammen]
Die Leseprobe finden Sie hier: Ubuntu – einander wechselseitig zu Menschen machen. Das Copyright liegt beim Deutscher Fachverlag GmbH. Oder Sie entscheiden sich für ein Probe-Abo der ZOE