Teil 3 von 3:

Im dritten Teil geht es um die Managementebene und die Frage, warum es geradezu notwendig ist, aus der Paradoxie von Werten heraus zu führen.

Ein kurzer Rückblick: Während es im ersten Teil um die individuellen Werte und deren Vielfalt ging, bin ich im zweiten Teil auf die Dynamik der Werte-Lücken auf Organisationsebene eingegangen. Danach sind Organisationswerte kein definierter Wertekatalog, der fest steht und feststeht. Sie sind vielmehr eine Reflexionsfolie für die Entscheidungspraxis jedes Organisationsmitglieds. Und auch Treibstoff für die Entwicklung der Organisation.

Vier Werte-Spielfelder

Nehmen wir als Beispiel die Werte eines mir gut bekannten Unternehmens: innovativ – leistungsbereit – loyal – partnerschaftlich. [Die Begriffe habe ich nur wenig verändert. Nicht damit Sie die Suchmaschine Ihres Vertrauens anwerfen … Kundenschutz, dafür haben Sie sicherlich Verständnis.]

Um die Widersprüchlichkeit von Werten ging es schon im zweiten Blog. Dort hatte ich das als Möglichkeit der Reflexion für das eigene Handeln gewertet: Welcher der (sich widersprechenden) Werte soll in der jetzigen Situation warum Oberhand gewinnen? So könnte eine Reflexionsfrage aussehen, die in dieser Situation zur Selbstanleitung verhilft. Auf Managementebene geht es nicht nur um diese Möglichkeiten. Es geht um mehr. Für das Management ist es um der Organisation willen wichtig und richtig, ja geradezu notwendig, widersprüchliche Werte zu propagieren. Harmonie führt an dieser Stelle zu Unaufmerksamkeit und Uniformität. Beides können sich Organisationen nicht leisten – schon gar nicht in dynamischen Situationen.

Doch zurück zu den vier beispielhaft genannten Werten:

  • innovativ
    ist ein aufgabenbezogener und vor allem nach außen (‚neu im Markt‘) bezogener Wert;
  • leistungsbereit
    bezieht sich ebenfalls auf die Aufgabe, ist jedoch nach innen in die Organisation hinein gerichtet;
  • loyal
    hat einen Ethikbezug und ist nach innen gerichtet;
  • partnerschaftlich
    ist ebenfalls ethikbezogen und zugleich nach außen gerichtet (Kunden, Lieferanten, Behörden).

Sie sehen: Die Werte bewegen sich auf vier verschiedenen Spielfeldern, sie können daher in der Praxis schnell in Widerspruch zueinander geraten: Bin ich gegenüber meinem eher trägen Kollegen loyal oder leistungsbereit? Bin ich bei Verhandlungen meinem Back-Office gegenüber loyal (Limit des Verhandlungsmandats) oder dem Kunden gegenüber partnerschaftlich (Stabilität der Kundenbeziehung)?

Wäre es dann nicht besser, wenn sich die Organisation solche Werte geben würde, die weniger leicht in Widerspruch zueinander geraten können? Schließlich sollen Werte ja Orientierung geben, oder? Zwei Fragen, zwei Mal dieselbe Antwort: Nein.

Lassen Sie mich mit der zweiten Frage beginnen. Also der nach der Orientierung durch Werte: Im zweiten Teil dieses Blogs hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass Werte nicht orientieren. Also eben nicht wie ein Fixstern die eine klare und richtige Antwort bei einer Entscheidung geben. Vielmehr sind Werte das Angebot zur Reflexion in Entscheidungssituationen.

Was nutzt eine Paradoxie der Werte?

Für das ‚Nein‘ auf die erste Frage nach den harmonisch aufeinander abgestimmten Werten haben Lotte Lüscher und Marianne Lewis die Begründung gegeben. Die beiden stellten fest, dass sich Ziele und Werte auf Managementebene gerade durch Widersprüchlichkeit auszeichnen. Das hat nichts damit zu tun, dass die Menschen auf dieser Organisationsebene zu Logik weniger fähig sind oder Spaß an Unpassendem haben. Vielmehr steht die Managementebene dauerhaft vor der Herausforderung, neue Zahlen, Daten, Fakten, die nicht ins bisherige Bild (in die ‚Story‘ oder das ‚big picture‘) passen, dort zu integrieren. Das sieht nach kurzer Zeit dann eben nicht mehr aus wie der übersichtliche Stadtplan der Mannheimer Innenstadt, sondern eher wie der von einem Festivalplatz nach vier Tagen. Bis hierher mag sich das so anhören als würde das alles aus einer Defensive heraus entstehen.

Viel wichtiger für das paradoxe Werte-Patchwork ist jedoch, dass das Management damit viel besser die verschiedenen Ansprüche in der Organisation ansprechen kann: Beispielsweise legt der Vertrieb mehr Wert auf partnerschaftlich, die Entwicklungsabteilung auf innovativ, leistungsbereit hat sich die Operative auf ihre Fahnen geschrieben und loyal ist das Thema des Controllings. Die Kunst und Aufgabe des Managements besteht nun darin, es nicht bei der ‚Werte-gerechten‘ Ansprache an jede Abteilung zu belassen, sondern

  • jede Werte-Logik für sich als Management zu verstehen und zu akzeptieren;
  • für jede Werte-Logik verständlich zu machen, worin Widersprüche zu anderen (ebenso wertvollen) Werten bestehen;
  • für jede Werte-Logik zu erklären, was andere womöglich verwirrt;
  • in jeder Werte-Logik die Implikationen aufzuzeigen, wenn diese allein und ‚100% pur‘ praktiziert würde;
  • mit allen Werte-Logiken zu experimentieren und dabei als Sparring-Partner aufzutreten.

Das setzt voraus, für Experimente offen zu sein, andere Aspekte einzuholen, Widersprüche anzuerkennen und auszuhalten. Und das alles aktiv und kommunikativ zu vertreten. Das führt zu einem professionellen Agieren in generalisierter Ungewissheit.

Die Organisation lebendig führen

Es erfordert eine Dialogform, die gut mit ‚Palaver‘ beschrieben werden könnte, hätte dieser Begriff nicht einen so schlechten Ruf. In der afrikanischen Kultur ist ein Palaver hoch angesehen. Hier geht es um ein gegenseitiges Kennenlernen und Aufeinanderzugehen, um eine soziale Aktivität, um gemeinschaftsstiftende Zwecke. Und genau darum geht es beim Management paradoxer Werte: Um ein Aushandeln, um das Loslassen von allzu starren Wertevorstellungen und -forderungen und um das Herstellen einer gemeinsamen ‚workable certainty’. Erst die Paradoxien von Werten machen es möglich, eine Organisation lebendig zu führen.

Werte als produktive Herausforderung

Zum Schluss ein Blick auf drei Teile „Werte“. Solange nicht

  • als verbindlich beschriebene Werte die Vielfalt eindämmen, die durch die Beschäftigten ohnehin ins Unternehmen getragen werden (siehe Teil 1);
  • die entstehenden Werte-Lücken durch ‚Ansagen von oben‘ zugeschüttet werden (siehe Teil 2);
  • das Management beim Aushandeln zwischen den widersprüchlichen Werten einzelner Abteilungen, Gruppen oder Personen Partei ergreift (Teil 3);

solange also Werte im Plural verstanden werden, Werte-Aushandlungen in fairer Rangelei stattfinden und das Management die Werte-Paradoxien aufrecht hält – solange sind Werte eine produktive Herausforderung für Organisation und Führung.

Die Formulierung von Organisationswerten ist der Beginn dieser Herausforderung, nicht das Endergebnis.

Frank Wippermann

Lüscher, L.S., Lewis, M.W. (2008): Organizational Change and Managerial Sensemaking: Working Through Paradox. In: Academy of Management Journal. (51), S. 221 – 240.

Bild: pixabay

Teil 2 von 3:

In diesem zweiten Teil geht es um die Organisationsebene und damit um Organisationswerte.

Die grobe Zusammenfassung von Teil 1 im Juli lautet: Werte sind vielfältig und es gibt eine ‚bunte Unordnung‘. Führung hat die Aufgabe, diese zu handhaben und zu nutzen.

„In X Schritten zu einzigartigen Core Values“

So oder ähnlich wird dafür geworben, mit Hilfe von Brainstormings, priorisierten Listen und beteiligungsorientierten Workshops Organisationswerte zu finden, die außergewöhnlich sind. In solchen Versprechen sind zwei Behauptungen versteckt:

  • nicht mehr nur die Dienstleistungen und Produkte sollen einzigartig sein, sondern auch die Werte – eine Begründung dafür ist mir nicht bekannt;
  • trotz der Abertausenden von bereits existierenden Organisationswerten gibt es noch unentdeckte und unverbrauchte.

Ein Blick auf die real existierenden Organisationswerte zeigt dagegen eine große Homogenität dessen, was Organisationen etwas wert ist – was sie als erstrebenswert, als gut, als richtig ansehen: integer, achtsam, teamorientiert, leistungsbereit, aufgeschlossen, vertrauensvoll, effizient, innovativ, loyal, verantwortungsvoll, mutig, partnerschaftlich, tolerant, vorbildlich, integer, kreativ, entschlossen, aufrichtig. Nehmen Sie eine Handvoll dieser oder ähnlicher Begriffe, erläutern Sie diese kurz und schon haben Sie die Landschaft der Werte von mehr als vier von fünf Organisationen beschrieben. Wieso auch sollten Organisationswerte einzigartig sein? Damit erhöht sich doch nur die Wahrscheinlichkeit, Werte in einer exklusiven Nische zu besetzen – und an der großen Menge an Kunden und Mitarbeiterinnen vorbeizureden. Genau deshalb gehen die meisten auf Nummer sicher und bedienen sich im Bauchladen der handelsüblichen Werte: So stellen sie dann zugleich unter Beweis, ‚anschlussfähig‘ zu sein (noch so ein Wert). Übrigens wird diese Anschlussfähigkeit dann zu einer besonderen Herausforderung, wenn Werte global gelten sollen. Interkulturelle Verwerfungen dürften schnell auftauchen. Mehr dazu finden Sie in diesem Projektbericht.

Der Inhalt ist wichtig – wichtiger ist die Praxis

Wenn also  alle Ähnliches machen, lohnt es sich dann überhaupt noch, Energie, Zeit und Geld in die Entwicklung von Organisationswerten zu stecken? Klare Antwort: Ja. Doch ist dabei das Ergebnis – der vielfach geschliffene Wertebegriff und die mehrfach diskutierte Definition – weniger wichtig als drei andere Punkte.

  • Der Prozess der Entwicklung von Organisationswerten ist wichtiger. Denn hier wird deutlich, ob und wie die propagierten Werte praktiziert werden. Wem ‚teamorientiert‘ und ‚innovativ‘ wichtig ist, der sollte den Entwicklungsprozess der Organisationswerte auch so gestalten.
  • Der Prozess des Entscheidens anhand und aufgrund der Werte ist wichtiger. Wenn schon durch die Werte Merkmale vorliegen, anhand derer ‚Gutes‘ von ‚Besserem’ unterschieden werden kann, dann sollten diese auch angewendet werden (mehr dazu im dritten Teil des Blogs).
  • Der Prozess des permanenten Sich-auf-die-Werte-Beziehens ist wichtiger. Häufig werden die Werte auf Mousepads und Tassen gedruckt und auf der Webseite veröffentlicht, spielen allerdings ansonsten keine Rolle. Dann merkt auch die letzte Beschäftigte, dass hier scheinheilig gearbeitet wird – nach außen hui, nach innen pfui. Im besten Fall hat eine Organisation also keine Werte, sondern macht sie in der täglichen Praxis und kommuniziert das auch so.

Sie sehen: Die Praxis der Werte ist entscheidend. Also ob und wie diese in der Organisation mit ihren Stakeholdern verankert sind. Nicht die Kultur prägt die Werte, sondern die Praxis der Werte erzeugt die Kultur.

Vage Werte als Echowand

Vage Werte sind kein Manko, denn Werte sind immer vage. Es gibt keine eindeutige Definition von ‚Freiheit-Gleichkeit-Brüderlichkeit‘, noch nicht einmal unter den Protagonisten der französischen Revolution. Selbst wenn Sie ausführliche Glossare oder Begriffsdefinitionen schreiben: In einer konkreten Situation wird eine konkrete Person aufgrund ihrer individuellen konkreten Werte sowie der konkreten Organisationswerte entscheiden, wie die persönlichen und die organisationalen Werte hier und jetzt zu interpretieren und anzuwenden sind. So erst bekommen Werte Bedeutung: durch und in der Praxis.

Die Möglichkeit, die Werte je nach Situation anzupassen, erhöhen nicht nur die Akzeptanz der Organisationswerte in der Belegschaft. Sie erlauben auch den Umgang mit widersprüchlichen Werten. Denn – so der russisch-britische Ideengeschichtler Isaiah Berlin: Werte sind untereinander nicht vereinbar, häufig stehen sie im Widerspruch zueinander. Wie soll sich beispielsweise ein Mitarbeiter verhalten, der einen Betrug in seiner Abteilung entdeckt? Loyal oder verantwortungsvoll … oder etwa tolerant? Wie gut, wenn dieser Mitarbeiter hier abwägen kann und mindestens einen der drei Werte verrät.

Organisationswerte geben also keine Orientierung. Obwohl das immer wieder gern behauptet wird. Sie sind lediglich Anhaltspunkte, die es in einer konkreten Situation ermöglichen in der Praxis zu reflektieren. Sie leiten nicht, sondern geben jedem Mitglied der Organisation die Gelegenheit, sich selbst aufgrund des ‘Echos der Wertewand’ zu leiten.

Vier Formen der Organisationswerte

Im ersten Blog ging es um die persönlichen Werte und den bunten Strauß an Werten, mit dem Beschäftigte in die Organisation kommen. Um beim Bild zu bleiben: Das ergibt eine riesengroße bunte Blumenwiese, um die es nun auf der Organisationsebene geht. Humphrey Bourne und Mark Jenkins haben Struktur in diese Blumenwiese der Werte gebracht. Sie unterscheiden vier Formen der Organisationswerte:

  • Angestrebte Werte
    Von ihnen nehmen die Mitglieder an, dass sie Organisationswerte sein sollten, also erstrebenswert und richtungsweisend sind.
  • Geteilte Werte
    Die gemeinsamen Werte, die dadurch entstehen, dass die Beschäftigten in einer Organisation durch den täglichen Umgang miteinander sozialisiert werden. Der Organisationscharakter schlägt sich so in den persönlichen Werten ihrer Mitglieder nieder.
  • Verfochtene Werte
    Diejenigen Werte, die von den Führungskräften aus ihrer Position heraus gutgeheißen werden. In formalen Erklärungen dokumentiert, werden die Werte seitens der Führung oft als Organisationswerte vorausgesetzt.
  • Zugeschriebene Werte
    Sie werden der Organisation von ihren Mitgliedern sehr allgemein zugeschrieben. Die Werte sind beispielsweise an interne Personen (Firmengründer) oder externe Zuschreibungen (Firmenimage) rückgekoppelt.

4 Formen von Organisationswerten

Die Inhalte der vier Formen stimmen in der Regel nicht überein, in vielen Fällen stehen sie sogar in Widerspruch zueinander.

Drei Werte-Lücken als Aufgabe für Führung

Aus diesen Nicht-Überlappungen entstehen sogenannte Werte-Lücken auf Organisationsebene. Die folgenden drei sind die typischen in der Praxis. Aus ihnen erwachsen jeweils andere Herausforderungen und Aufgaben an bzw. für Führung.

Werte-Lücken und die Aufgaben von Führung

Wirksame Organisationswerte sind also nicht diejenigen Werte, die auf der Schauseite der Organisation werbend präsentiert werden: „Schaut her, wie toll wir sind.“ Das ist Imagebuilding. Organisationswerte sind das Ergebnis des täglichen Umgangs mit den drei immer wieder entstehenden Werte-Lücken. Aus ihnen erwächst die Dynamik von Organisationen.

Machen Sie sich um Ihre Organisation erst dann Sorgen, wenn es diese Werte-Lücken nicht mehr gibt – denn dann ist sie tot.

Frank Wippermann

Bourne, H., Jenkins, M. (2013): Organizational Values. A Dynamic Perspective. In: Organization Studies. (4), S. 495 – 514.

Bild: pixabay

Teil 1 von 3:

Werte bieten Orientierung – zu viele Werte verwirren und erzeugen Beliebigkeit. Heute erfahren Sie, wie Sie die Klaviatur der Werte spielen können.Dann sind Werte nicht mehr Gegenstand einer Soft-Skill-Kultur für nette Ansprachen und bunte Grafiken auf der Webseite. Werte werden vielmehr zu einer strategischen Frage, mit der Klarheit und Verständnis gerade in Zeiten der Unsicherheit erzeugt werden. In diesem ersten von drei Teilen geht es um ‚Werte im Plural‘. Und um Erwartungen an die digitale Transformation sowie die damit verknüpften individuellen Werte.

Ein ‘wertvolles’ Beispiel zum Einstieg

Hannah Meier ist es wichtig, selbstbestimmt und möglichst unabhängig arbeiten zu können. So kann sie viel Neues entdecken und erarbeiten. Tim Schreier bevorzugt es, in klaren und abgegrenzten Bereichen Routineaufgaben zu erledigen. So findet er die Ruhe, um konzentriert an einer Sache dran zu bleiben. Die beiden scheinen sehr verschiedene Arbeitsmotive zu haben, vielleicht aufgrund persönlicher Typpräferenzen. Doch haben sie auch verschiedene Werte? Werte, verstanden als solche Qualitäten einer Entscheidung oder einer Sache, die eine Person als erstrebenswert, als gut, als richtig ansieht? Das könnten sein: Neugier und Autonomie bei Hannah – Bestimmtheit und Beharrlichkeit bei Tim. Oder wie wäre es mit Professionalität und Qualitätsbewusstsein bei beiden?

Einigen wir uns auf: Sie haben sowohl verschiedene als auch übereinstimmende Werte. Dann stellt sich die Frage, welche Werte die Organisation hat, für die beide arbeiten. Und ob diese Werte in irgendeiner Form bindend, leitend oder orientierend sind. Und ob Verstöße gegen Werte Sanktionen nach sich ziehen – dann ist’s bis zum Wächterrat nicht mehr weit …

Werte sind wandel- und verhandelbar

Systeme mit Werten, mit denen ein Anspruch auf Wahrheit erhoben wird, sind per definitionem Ideologien. Ich gehe mal davon aus, dass in einer pluralistischen Gesellschaft nicht danach gestrebt wird. Werte sind also wandel- und verhandelbar. In den vergangenen Corona-Monaten war das gut zu beobachten:

  • ‚Schutz des Lebens / Gesundheit‘ steht über allem – mit diesem Grundsatz wurde Mitte März der Lockdown begründet.
  • „Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident [26.04.2020 im Tagesspiegel. Beachten Sie das Bedingende „wenn es überhaupt … gibt, dann …“]
  • Es gibt anderes, das (mindestens) genauso wichtig ist wie Gesundheit: [hier setzen Sie bitte das ein, was Ihnen derzeit besonders wichtig ist].
  • Und da sind Menschen, die wutschnaubend gegen eine ‚Diktatur’ protestieren, die sie nicht mal annähernd beschreiben geschweige denn belegen können.

Was hat es denn nun mit den wandel- und verhandelbaren Werten auf sich?

Wertvoll führen gibt Orientierung

„Moderne Gesellschaften brauchen keine moralischen Letztbegründungen und keine letzte Moral-Einheit. Was sie brauchen, sind regulative Fiktionen, mit denen sie sich über das Gewollte und Gesollte immer wieder neu verständigen. Werte sind genau solche regulativen Fiktionen: Sie dynamisieren, emotionalisieren uns Menschen; sie neutralisieren und pluralisieren unsere eingeengte Sicht auf das, was ist, und auf das, was sein soll.“ (NZZ vom 14.03.2016)

Und für alle, die jetzt „Beliebigkeit – Unordnung – Werterelativismus“ rufen. Ja:

  • Werte sind relativ – schließlich leben wir nicht im Absolutismus.
  • Werte sind unordentlich – wie die dynamisch-komplexe Welt, in der sie diskutiert werden.
  • Werte sind beliebig – je nachdem, was einer Person an Erstrebenswertem beliebt.

Für Führungskräfte ist das übrigens eine gute Nachricht. Denn gäbe es Werte, die feststehen und fest stehen, dann wäre eine orientierende Führung überflüssig. Es bräuchte nur noch eine kontrollierende Funktion. Doch das ist nicht Führung, das ist Überwachung.

Das Buch von Andreas Urs Sommer, den ich oben zitiert habe, empfehle ich Ihnen sehr. Sie können es online bei Unternehmen bestellen, deren Steuergebaren schlupflöcherig ist, oder in der lokalen Buchhandlung Ihres Vertrauens oder als E-Book. Das hängt ganz von den Werten ab, die jetzt gerade für Sie wichtig sind: Bequemlichkeit – lokale Wirtschaft – Ressourcenschonung. Allein an diesen dreien merken Sie, dass Sie die schlecht unter einen Hut bekommen. Mehr dazu lesen Sie im dritten Teil unseres Blogs.

Selbsttest: Sieben individuelle Erwartungen und Werte

Am Beispiel der digitalen Transformation lässt sich die Vielfalt individueller Erwartungen gut darstellen. In der folgenden Tabelle sehen Sie sieben Aussagen zur digitalen Transformation. Suchen Sie die Aussagen heraus, die Ihres Erachtens auf Sie am besten zutreffen.

Was heißt die Digitale Transformation für mich persönlich?

Als Ergebnis dürften Sie nun ein bis drei Aussagen für sich als passend bestimmt haben. Diese Auswahl sagt viel über Sie und Ihre Einstellung nicht nur zur digitalen Transformation, sondern allgemein zur Erwerbsarbeit aus. Und Ihre Auswahl gibt Hinweise auf die Werte, die Ihnen jetzt für Ihre Arbeit wichtig sind.

Wenn Sie die Nummern dieser Aussagen in der folgenden Grafik ausmachen, dann haben Sie sich damit positioniert – irgendwo zwischen zwei oder drei der sieben Punkte in der Grafik.

Wertematrix zur digitalen Transformation

Hinter Erwartungen liegen Werte

Damit steht auch fest, welche beiden der vier Werte an den Achsen Ihnen wichtiger sind. An diesen beiden Werten orientieren Sie sich. Sie sind Ihr innerer Kompass bei Entscheidungen um ‚gut, erstrebenswert, richtig’. Es ist übrigens gut möglich, dass Sie im Arbeitsleben eine andere Wertepräferenz haben als im Privatleben. Dann müssen Sie auf der Fahrt von und zur Arbeit eben umschalten. Das geht – bei vielen Menschen unterscheidet sich das Wohnzimmer-Ich vom Berufs-Ich. Spannend wird es erst in zwei Fällen:

  1. Ihre Wertepräferenz unterscheidet sich von dem, was in Ihrer Organisation propagiert und verlangt wird;
  2. Ihre Wertepräferenz unterscheidet sich von der Wertekonstellation derjenigen, mit denen Sie während der Arbeit zu tun haben.

Zu dem ersten Punkt komme ich in der Fortsetzung dieses Blogs im zweiten Teil, zum zweiten im folgenden Abschnitt.

Wertedynamit und Wertedynamik

Nur sehr selten sind sich Kolleginnen und Kollegen über die Werte bei ihrer Arbeit einig. Und Einigkeit wäre auch gar nicht gut (mehr dazu unten). Meistens ‚wimmelt‘ es an Werten – in verschiedenen Konstellationen:

  • Sie sind in der Gruppe der gleichgestellten Kolleginnen und Kollegen in der Minderheit. Dann werden Sie es in Diskussionen und vor allem bei Entscheidungen schwer haben, sich durchzusetzen. Überlegen Sie, welchen Nutzen Ihre favorisierte Entscheidung in der Werte- und Argumentationswelt der Mehrheit haben kann. Und stellen Sie diesen Nutzen dann heraus.
  • Ihre Wertepräferenzen sind andere als die recht homogene Wertewelt Ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Dann werden Sie Schwierigkeiten haben, für Ihre Entscheidungen Verständnis zu finden. Begeisterung ist schon gar nicht zu erwarten, eher Spannung. Hier haben Sie zwei Möglichkeiten: Entweder Sie erzeugen für die Skeptiker im Sinne eines iterativen Change Managements nach und nach ‚Quick-Wins‘. Oder Sie regieren per Anweisung durch. Das erste dauert lang, das zweite ist wenig stabil. Entscheiden Sie sich – auf Basis Ihrer Werte. Ein Coaching oder Sparring kann hierbei viel Klarheit bringen.
  • In Ihrem Verantwortungsbereich sind alle Wertepräferenzen vertreten. Von vierzehn Personen Ihrer Organisationseinheit gibt es für jede der sieben Aussage zur digitalen Transformation wahrscheinlich genau zwei, die das jeweils gut finden. Das sollten Sie jetzt nicht negativ als ‚Hühnerhaufen‘ (oder für alle aus Bayern: als Fleckerlteppich) interpretieren. Ganz im Gegenteil: Glückwunsch zu diesem Team. Denn erwiesenermaßen erhöht Diversität die Profitabilität um ein Fünftel bis ein Drittel. Das hat nicht nur McKinsey in einer Studie herausgefunden. Auch die International Labour Organization (ILO) weist darauf hin. Mit dieser bunten ‚Werte-Unordnung‘ haben Sie die Chance, dass verschiedene Perspektiven bei Entscheidungen einfließen. Damit stehen diese Entscheidungen, auch wenn ihr Zustandekommen aufwändig ist, auf zwei festen Beinen: Dem Bein der abgewogenen Argumente und dem Bein der werteübergreifenden Bindung.

Vielfalt für die Führung nutzen

Sie sehen: Werte als „relative Fiktionen“ ändern sich und sind in ihrer Vielfalt sehr hilfreich. Damit wird eine Führung notwendig, die Werte weder setzt noch beschließt oder gar verkündet – sondern einbezieht, zusammenführt und gelten lässt. Werte gibt es nur im Plural.

Frank Wippermann

Dies ist der erste Teil einer dreiteiligen Blog-Reihe zum Thema „Wertvoll führen“. Im zweiten Teil (im September) geht es um drei Wertelücken innerhalb einer Organisation, im dritten Teil (zum Jahresende) um Wertekonflikte auf Managementebene. In beiden Blogs geht es um die Dynamik, die diese Lücken beziehungsweise Konflikte ermöglichen.

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