Zeugniszeit – und neben der Frage, welche Note der Sitznachbar denn nun in Mathe bekommen hat, interessiert die allermeisten Eltern und Kinder, „was es denn für das Zeugnis gibt“. Hören wir mal in das Gespräch von zwei Schulkindern rein.

„Du, der Niklas bekommt für jede 1 zehn Euro, für jede 2 fünf und für eine 3 zwei Euro.“

„Bei Hannah ist das so, dass die für jede Note besser als im Zeugnis vorher 5 Euro bekommt.“

„Oh, die ist doch schon so gut, wie soll die denn noch besser werden? Und wie ist das bei dir?“

„Ach, ich bekomme nach jedem Zeugnis eine Überraschung von meinen Eltern. Meistens machen wir einen gemeinsamen Ausflug oder besuchen zusammen einen Freizeitpark.“

„Das ist cool – ich bekomme gar nichts. Meine Eltern meinen, gute Schulnoten sind schon Belohnung genug.“

„Naja, aber dafür bekommst du auch viel mehr Taschengeld im Monat als ich – und außerdem bin ich schon ein wenig neidisch darauf, wie viel deine Eltern mit dir sonst so unternehmen.“

„Das stimmt, das finde ich auch gut – und ich bekomme ja Zeugnisgeld von Oma und Opa.“

Nun möchte ich mich nicht in Erziehungsfragen einmischen oder gar die soziale Rolle von Großeltern hinterfragen. Die Analogie zu Fragen der Prämien, Boni oder Zulagen im Arbeitsleben ist offensichtlich. Gibt es überhaupt Prämien? Sind die berechenbar (wie bei Niklas und Hannah) oder eine Überraschung? Und in welchem Verhältnis stehen Prämien zum (festen) Grundgehalt (bei den Schulkindern ist es das Taschengeld)? Die Diskussionen beim Elternstammtisch einer Grundschule ähneln schon denen in der Geschäftsführungsrunde eines Unternehmens.

Ist die Abschaffung von individuellen Prämien eine Modewelle?

Bosch, Deutsche Bahn, Infinion, SAP und andere Unternehmen haben angekündigt, individuelle Boni ganz oder teilweise abzuschaffen. Ergebnisse lassen sich in einer vernetzten Welt immer weniger einzelnen Personen zuordnen. Aufgrund der äußeren Einflüsse lässt sich der Erfolg oder Misserfolg nicht gleichsetzen mit dem Engagement einzelner Mitarbeiter. Dazu kommt ein erheblicher Controlling-Aufwand, um die einzelnen Indikatoren und Kennzahlen zu erheben und den jeweiligen Personen zuzuordnen. Und dann gibt es jedes Jahr Konflikte, weil sich Mitarbeiter ungerecht behandelt fühlen. Übrigens: Vertriebsbereiche sind gegenüber Individualprämien wesentlich offener, die Provisionsmentalität beherrscht hier das „Mindset“. Ob die oben genannten Unternehmen, die ihr Bonus- und Prämiensystem überarbeiten oder abschaffen möchten, Trendsetter sind, wird sich zeigen.

Wer hat das Motivationsproblem? Der Hund oder das Herrchen?

Die berühmte Geschichte von Frederick Herzberg geht so: Ein Mann geht mit seinem Hund spazieren. Der Mann wirft ein Stöckchen, aber der Hund läuft nicht los, sondern legt sich hin. Der Mann holt das Stöckchen dann selbst, hält es dem Hund unter die Nase und wirft es erneut. Aber der Hund bleibt immer noch liegen. Das wiederholt sich einige Male. Herzberg fragt ganz lapidar, wer in dieser Szene denn nun ein Motivationsproblem habe. Übrigens: der bequem liegende Hund ist es nicht. Geld kann motivieren, die Wirkung hält nur nicht gerade lange an (Strohfeuereffekt). Und eine Prämierung von einer Zusatzleistung kann die intrinsische Motivation für genau diese Zusatzleistung zunichtemachen (Verdrängungseffekt). Weiterhin hat die für eine Erfolgs- oder Verhaltensmessung notwendige Kontrolle mitsamt der Messungen und Formulare demotivierende Auswirkungen auf das Verhältnis Führungskraft-Mitarbeiter und wird als Eingriff in den Handlungsspielraum des Mitarbeiters aufgefasst. Die drei maßgeblichen Motivatoren für Arbeit – kollegiales Klima, orientierende und unterstützende Führung sowie Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten bei der Arbeit – geraten durch die Einführung von individuellen Zulagen zumindest in Bedrängnis.

Was tun?

Es gibt keine „one size fits all“ Lösung – es gibt auch keine Lösung ohne Nebenwirkungen.

Ein Verzicht auf jedwede Form von Prämien bei gleichzeitiger klarer und transparenter Abhängigkeit von den beschriebenen und bewerteten Anforderungen des jeweiligen Arbeitsplatzes („Job Grading“) erfüllt den Tatbestand „gleiches Geld für gleiche Arbeit“ am ehesten. Doch deckt das meistens auch die Inkonsistenzen der bisherigen Gehaltspolitik auf. In vielen Unternehmen wird nämlich versucht, eine solche Gehaltspolitik durch Prämien auszugleichen – häufig mit dem Beigeschmack einer noch intransparenteren Entlohnung.

Der Vorteil einer kollektiven Prämierung – abhängig beispielsweise vom Unternehmensgewinn – ist der Fokus auf das gemeinsam Erreichte. Doch kann das zu „Trittbrettfahrer-Phänomenen“ und sich anschließenden Konflikten innerhalb der Belegschaft führen. Schließlich bekommen die „Faulpelze“ genauso viel wie die „Fleißbienen“ – wobei längst nicht Einigkeit darüber besteht, wer zu welcher Gruppe gehört. Übrigens sollte der tägliche Umgang mit den verschiedenen „Performern“ Aufgabe konkreter Führung in der jeweiligen Situation sein – und nicht an ein Entgeltsystem delegiert werden. Die Ungerechtigkeit einer kollektiven Prämierung ist nicht das Ergebnis des Entgeltsystems, sondern das Ergebnis unzureichender Interventionen durch die Führung.

Im Zuge von Industrie 4.0 und den Bedingungen immer flexiblerer Anforderungen an die Erbringung von Produkten und Dienstleistungen gehen einige Unternehmen dazu über, eine Qualifizierung “auf Vorrat“ zusätzlich zu vergüten. Unabhängig davon, ob der Mitarbeiter seine Zusatzqualifikation gerade einsetzen kann oder nicht. Honoriert wird durch diese Prämie allein die Tatsache, dass aufgrund dieser Qualifizierung eine flexiblere Personaleinsatzplanung möglich ist. Dass eine solche Qualifizierung immer aktuell gehalten werden muss, steht auf einem anderen Blatt.

Teamspirit und Führungsqualität sind noch wichtiger

Sie sehen, alles nicht so einfach… Und wenn der Spruch „beim Geld hört die Freundschaft auf“ auch nur etwas Wahrheitsgehalt besitzt, dann ist das Ringen um eine faire Entgeltpolitik nicht nur eine Frage des Geldes, sondern ebenso eine Frage von Unternehmensklima, Mitarbeiterzufriedenheit und Führungsqualität.

Im Gespräch der zwei Schulkinder gibt es übrigens eine Stelle, auf die ich Sie noch hinweisen möchte: Das eine Kind wird im Laufe des Gesprächs darauf aufmerksam, dass die Qualität des alltäglichen Erlebens mit seinen Eltern („wie viel deine Eltern sonst so mit dir unternehmen“) ebenso wichtig ist, vielleicht sogar wichtiger als das Zeugnisgeld. Übertragen Sie das doch einmal auf Ihr Unternehmen und darauf, was Sie „sonst so gemeinsam unternehmen“. Vielleicht sind Teamspirit, Führungsqualität und ein Miteinander auf Augenhöhe viel mehr Wert als Sie glauben, vielleicht sogar unbezahlbar.

 

Werner Morfeld